Der kreative Mensch

1. „Kreative Menschen verfügen über eine Menge physischer Energie, aber sie sind auch häufig ruhig und entspannt. Sie machen Überstunden, arbeiten mit höchster Konzentration und strahlen gleichzeitig eine Aura der Frische und Begeisterung aus. […]
2. Kreative Menschen sind häufig weltklug und naiv zugleich. […]
3. Eine dritte paradoxe Eigenschaftskombination ist die Verbindung von Disziplin und Spielerischem oder Verantwortungsgefühl und Ungebundenheit. […]
4. Kreative Individuen wechseln häufig zwischen Imagination und Phantasie auf der einen Seite und einem bodenständigen Realitätssinn auf der anderen Seite. Beides ist notwendig, damit man sich von der Gegenwart freimachen kann, ohne den Bezug zur Vergangenheit zu verlieren. […]
5. Kreative Personen vereinen offenbar gegensätzliche Tendenzen auf dem Spektrum zwischen Extraversion und Introversion. Die meisten Menschen sind entweder das eine oder das andere, stehen entweder am liebsten im Mittelpunkt oder ziehen es vor, das Geschehen als Zaungast zu verfolgen. […]
6. Ein weiteres auffälliges Merkmal kreativer Menschen ist die scheinbar widersprüchliche Mischung von Demut und Stolz. Da begegnet man einer berühmten Persönlichkeit und trifft nicht auf die erwartete Arroganz und Hochnäsigkeit, sondern auf eine erstaunliche Scheu und Bescheidenheit. […]
7. In allen Kulturen werden Männer dazu erzogen, ihre „männlichen“ Eigenschaften herauszubilden und andere Aspekte ihres Charakters zu ignorieren oder zu unterdrücken, die von der Gesellschaft als „weibliche“ definiert werden. Von Frauen wird das Gegenteil erwartet. Kreative Individuen entfliehen in gewisser Weise dieser rigiden Rollenverteilung. […]
8. Kreative Menschen gelten im Allgemeinen als rebellisch und unabhängig. Aber man kann nur kreativ sein, wenn man zunächst eine bestimmte kulturelle Domäne verinnerlicht hat. Außerdem muss man von der Bedeutung einer solchen Domäne überzeugt sein, um ihre Regeln zu erlernen. Daraus folgt, dass ein kreativer Mensch auch bis zu einem gewissen Grade ein Traditionalist sein muss. […]
9. Die meisten kreativen Personen bringen sehr viel Leidenschaft für ihre Arbeit auf, und können ihr doch auch mit einem Höchstmaß an Objektivität begegnen. Die Energie, die durch diesen Konflikt zwischen Bindung und Distanz erzeugt wird, ist von vielen Befragten als wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit genannt worden. […]
10. Schließlich sind kreative Individuen durch ihre Offenheit und Sensibilität häufig Leid und Schmerz, aber auch intensiver Freude ausgesetzt. Warum sie leiden, ist leicht nachzuvollziehen. Die größte Sensibilität kann Verletzungen und Ängste mit sich bringen, die den meisten Menschen unbekannt sind. […]“

Csikszentmihalyi, M. (2010), Kreativität – Wie Sie das Unmögliche schaffen und ihre Grenzen überwinden, S. 89-111